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Verlieren

By Eva Simon

Eine Körperreise in den Krieg - von Eva Simon, Dezember 2024

Präambel

Dieser Text entstand zur Feier der Secular Solstice (säkulare Wintersonnenwende) 2024 in Frankfurt/Main mit dem Thema “Krieg und Frieden”. Einzuordnen ist er in der späten Düsternis, im Übergang zur Nacht. Nach allen oder ausgewählten Passagen können Kerzen ausgepustet werden, um die Verluste visuell zu unterstreichen. Vorlesedauer: 30-45 min

Triggerwarnung

Enthält Gewalt, Tod von Tieren und Menschen, Vergewaltigung, Suizid, Mord, Kindstod! Es könnte emotional sehr schmerzhaft werden. Bei meinem ersten Vortrag haben Menschen geweint und geschluchzt, mussten den Raum verlassen. Wenn dich so etwas belastet, bitte ich dich für diese Zeit in ein anderes Zimmer zu wechseln. ——

Einleitung

In meinem Beitrag geht es um das Verlieren. Bitte setzt oder legt euch bequem hin und schließt die Augen. (Warten bis jeder soweit ist) Ich lade dich dazu ein, dich voll und ganz einzulassen. Weinen, Schluchzen sind okay. Wenn du merkst, dass deine Emotionen unerträglich werden, dann öffne deine Augen und komm zurück in das Hier und Jetzt. In unseren Solstice-Abend, in den Frieden und den Alltag, den du z. B. gestern erlebt hast. Entspann Dich, konzentriere dich auf deine Atmung. Beobachte deine ganz persönliche Simulation der Welt im Gehirn. Fühl deinen Körper, von Kopf bis Fuß. Alles, was an Dir dran ist, was du hast: Deinen harten Schädel, vielleicht mit langen Haaren, die wie Schnurrhaare einer Katze die kleinste Bewegung wahrnehmen; vielleicht ohne Haare, sodass du jeden Lufthauch spürst, ob warm oder kalt. Deine empfindlichen Augen, wie sie wandern, ein bisschen schmerzen bei dem Versuch ruhig zu bleiben. Deine beiden Ohren, die leises Rascheln und das Atmen der anderen hören. Deine feine Nase, die instantan jeden Geruch aufnimmt und aus einer wilden Mischung einzelne Komponenten auszumachen vermag. Deinen feuchten Mund mit dem bissfesten Kiefer, in dem deine harten Zähne malen und die weiche Zunge liegt; den schwindenden Geschmack des leckeren Essens vermischt mit deinem wässrigen Speichel; und Schluck - deinen beweglichen Hals und wie die erwärmte Atemluft durch deine empfindlichen Bronchien in die aufblähenden Lungenflügel gelangt; spüre deinen starken Rücken und deinen schweren Brustkorb, der sich langsam hebt und senkt; die stabilen Rippen, die sich wie eine feste Panzerung um die lebenswichtigen Teile deines Körpers spannen; dein kräftiges Herz, das darin klopft und dein energiereiches Blut verteilt, abertausend kleine, unterschiedliche Partikel strömen durch dein gesamtes Inneres; durch deine vertrauten Arme in deine unverzichtbaren Hände, und weiter bis in die empfindlichen Fingerspitzen; und in deine stämmigen Beine bis in die zehn Zehspitzen mit ihren scharfen Fußnägeln. Und zurück; in deine Organe, jedes mit seinem Zweck; z. B. dein feinfühliger Magen, der die Mahlzeiten verdaut, dein robuster Darm, der die Nährstoffe daraus aufnimmt, all die sinnvollen Drüsen und Filter, die dich gesund erhalten; jede Faser, jeden Muskel, jede Sehne, die sich durch dich zieht. Werde dir deiner vielgliedrigen Wirbelsäule bewusst, durch die unzählige Nervenbahnen verlaufen. Spühre auch deine taktile Oberfläche, deine Haut, wie sie eine bestimmte Körpertemperatur hält, dich abgrenzt von deinem Umfeld und verpackt zu einem einzigartigen Ganzen. Ich möchte euch -euren Körper- nun mitnehmen - auf eine Reise. Eine Reise in einen Alptraum, den Krieg.

1. Rechtes Auge - Streichung von Mitteln für Theater, Kunst

Eine stumpfe Ernsthaftigkeit ist eingekehrt. Die aktuellen Nachrichten werden immer schlechter. In den Mainstream-Medien gibt es nur noch ein dominierendes Thema: Krieg. Man braucht Geld für die Armee. Kuturelle Einrichtungen werden reihenweise geschlossen. Du vermisst die Besuche im großen Theater, die dir schöpferische Inspiration, kurzweilige Heiterkeit und überwältigenden Weitblick geschenkt haben. Dein Lieblings-Museum, in dem du stundenlang die vertrauten Schätze betrachten konntest, wurde von heute auf morgen geschlossen. Langsam, aber sicher, stumpft dein Geist ab; erblindest du für die Schönheit und Sinnlichkeit im Leben.
- Verliere dein rechtes Auge im Krieg.

2. Geschmack - Inflation, Kriegssteuer

Die Zeiten, in denen man sich dem Genuss von leckeren Speisen und Vergnügungen hingeben konnte, sind vorbei. Jede Ausgabe musst du überdenken, weil mit jedem Tag alles teurer wird. Rekordinflation, dazu noch die übermäßige Kriegssteuer. Dich bedrückt es, dein gesamtes hart Erspartes aufzugeben. Schweren Herzens verbietest du dir und deinen sechs Liebsten den gewohnten Lebensstandard. Du ziehst in einen ungepflegten Sozialbau am Rande der vermüllten Stadt. Du verzichtest auf sehr, sehr viel; unter anderem auf gutes Essen, Kräuter, Gewürze. Alles schmeckt auf einmal fade oder bitter, wird immer eintöniger. - Verliere deinen Geschmackssinn im Krieg.

3. Haare - Hobby

Dein täglicher Weg zur Arbeit ist länger geworden. Es bleibt keine freie Zeit mehr übrig, um deinem liebsten Hobby nachzugehen. Du wirst mit jedem Tag unzufriedener, lässt dich gehen, reagierst grantig, wenn dich jemand anspricht. Deine Freizeitaktivität war das, was dich ausgeglichen hat; womit du etwas für dich erreichen wolltest; was dich schmücken sollte, was dein Gemüt gepflegt hat. - Verliere deine Haare im Krieg.

4. Muskeln - Beruf

Dir wurde gekündigt. Gestern haben sie es dir mitgeteilt und noch am selben Tag musstest du deine paar persönlichen Gegenstände packen und gehen. Wahrscheinlich für immer. Sonst hast du dich immer durchgeboxt, geackert bis zur Deadline, warst ein starkes Vorbild. Ohne Anstellung kannst du dich nicht aus eigener Kraft versorgen und deine Familie unterstützen. Du fällst in Abhängigkeit, zählst zu den Schwächsten der Gesellschaft, schämst dich. - Verliere deine Muskeln im Krieg.

5. Schultern - Freund zum Wehrdienst eingezogen

Der Staat ermächtigt sich der jungen Menschen. Dein bester Freund wurde zum Wehrdienst eingezogen. Auf unabsehbare Zeit werdet ihr kaum noch voneinander hören. Du vermisst ihn und die vielseitigen Gespräche mit ihm jetzt schon. Die schreckliche Ungewissheit, ihn vielleicht nie wieder zu sehen, plagt dich. Ihr ergänzt euch gut und helft einander aus. Zu guten Zeiten feiert ihr gemeinsam und in den schweren seid ihr füreinander da, gebt dem anderen Halt und Kraft. Eine Seite zum über sich Hinauswachsen, die andere zum Anlehnen.
- Verliere deine beiden Schultern im Krieg.

6. Stimme - Notstandsgesetz ausgerufen, Anarchie, Chaos

Das sonst so mündige Volk darf nichts entscheiden. Mehr noch, ihm werden zusätzliche Lasten auferlegt. Die erlassenen Notstandsgesetze führen zu regelmäßigen Ausgangssperren und verbieten Versammlungen. Trotzdem oder gerade deswegen blüht der Schwarzmarkt auf. Du versuchst, möglichst viele Kontakte zu knüpfen und zu festigen - so wie ein jeder. Die starke Konkurrenz, schmierige Korruption und dreckige Erpressung machen es dir schwer; lassen dich gegen Mauern rennen. Sicher Geglaubtes platzt; auf nichts ist mehr Verlass, erst recht nicht auf das ehrenhafte Wort. Alles was du sagst, erscheint dir belanglos und unbedeutend und geht im Lärm der Zeit unter.
- Verliere deine Stimme im Krieg.

7. Niere - politische Gegner in Arbeitslager

Dein geliebtes Bruderherz, von vielen geschätzter weltoffener Journalist, hat sich öffentlich gegen die politischen Maßnahmen ausgesprochen und hohe Regierungsmitglieder kritisiert. Heute früh wurde er von der neuen “Staatspolizei” abgeholt, die sich nur noch mit der Drangsalierung des eigenen Volkes beschäftigt, statt dieses zu schützen. Dein Bruder bekam kein anständiges Gerichtsverfahren. Es hieß, man deportiere ihn in eines der zahlreichen Arbeitslager, die neuerdings ohne großen bürokratischen Aufwand schnell errichtet werden. Schon jetzt gelangen aus diesen Lagern schreckliche Nachrichten von grausamer Folter und hohen Todeszahlen. Du sorgst dich, dass er mit seiner schweren Krankheit dort nicht lange durchhält. Vor einigen Jahren hast du ihm eine deiner Nieren gespendet. Das hat ihm sein fragiles Leben gerettet. Nun steht es erneut auf dem Spiel, in den kalten Händen der Staatsgewalt. Du hast nicht einmal Abschied nehmen können, so schnell zerrten sie ihn weg; behandelten ihn grob. Den heftigen Schlag in die Magengrube konntest du förmlich spühren. Herausgerissen haben sie ihn aus deiner Familie, aus deinem Geist, aus deinem Körper. - Verliere deine Niere im Krieg.

8. Gehör - Bombenangriffe

Die städtischen Sirenen heulen auf. Es ist soweit - mal wieder. Unpassend, plötzlich. Du packst eilig, ignorierst das Kindergeschrei und schließt dich dem Fußgetrappel an. Ein lebendiger Strom reißt dich mit nach unten, immer weiter runter. Alles zieht sich zurück in den Untergrund. Du gerätst in einen Stau, läufst deinem Vordermann in die Haken. Deine gemurmelte Entschuldigung geht in der umsichgreifenden Panik unter. Es geht um spärliche Minuten. Wenn du und deine Liebsten nicht rechtzeitig den sichernden Schutzraum aufsuchen, verendet ihr wahrscheinlich unter massiven Trümmern an der brennenden Oberfläche. Es sind zu viele Leute - zu wenig Platz. Die aufgebrachte Menge verdichtet sich, drängt weiter. Ihr schafft es in einen muffigen Keller, Menschen und Tiere kauern dicht an dicht, ihr schiebt euch an mit dem Nötigsten vollgestopften Kammern vorbei. Schließlich lässt du dich im Flur auf dem kalten Betonboden nieder, um deine kleine Tochter tröstend in den Arm zu nehmen. Du spürst ihr schnell hämmerndes Herz an deiner Brust, die Schockstarre, die sie verstummen lässt. Das elektrische Licht verlöscht, glimmt noch kurz nach, dann ist es zappenduster. Jemand schaltet eine kleine Taschenlampe an. Es beginnt eine sich immer weiter dehnende Zeit des ungewissen Wartens. In der Ferne vernimmst du Gebete, Wimmern, leisen Zuspruch. Du denkst an dein Partny, deine Mutter und deine Schwester, die gerade nicht bei dir sind. Hoffentlich haben Sie auch einen Platz gefunden. Im fahlen Lichtschein erkennst du deinen vom Alter gezeichneten Vater, der gerade in ruhigem Ton sagt, dass alles wieder gut werde. Ohne zu wissen, dass dies das letzte sein wird, das du von ihm hörst. Die angespannte Lage wird ruckartig durchbrochen. Die Erde erzittert, ein ohrenbetäubender Knall. Deine Tochter schreit aus purer Angst. Dann noch eine Explosion; nicht weit von hier. Sie kommen immer näher. Die nächste Bombe könnte hier treffen. Dich und deine Liebsten. Die nächste Detonation zerfetzt deine Trommelfelle. - Verliere deine Ohren im Krieg.

9. Geruchssinn - Unrat, Haustiere essen

Euer Haus wurde zerstört. Den gelb-grünen Kanarienvogel deiner Tochter habt ihr aussetzen müssen. Ihr lebt jetzt in einem nach Kohle stinkenden Kellerloch. Die herbstliche Feuchte zieht in den Erdboden, Schimmel breitet sich aus. Das Atmen drinnen fällt schwer. Das Atmen draußen ist nicht besser. Es riecht nach altem Müll und frischem Kot. Ehemals gepflegte Haushunde streifen nun als verlauste Straßenköter durch die verlassenen Gassen voller Unrat und Resten von verwesenden Kadavern. Es gibt kaum mehr Lebensmittel. Die ausgegebenen Marken sind nichts mehr wert. Du stellst Fallen auf, um wenigstens manchmal ein kleines Stück zähen Fleisches von einem mageren Tier zu ergattern. Oft trägt deine kleine Beute noch ein individuelles Halsband und schaut dich mit flehenden Augen an. Es kostet dich sehr viel überwindung, aber ihr müsst essen. Du liest jedesmal den klangvollen Namen, dankst dem wimmernden Tier für sein unfreiwilliges Opfer. Dann betäubst du es mit einem dumpfen Schlag und mit einem gezielten Schnitt tötest du es. Danach kommt die mühselige Arbeit es aufzuschneiden, zu zerlegen und alles Verwertbare zu präparieren. Dabei dreht sich dir oft selbst der Magen um. An den fiesen Gestank der Innereien gewöhnt sich deine Nase allmählich. - Verliere deinen Geruchssinn im Krieg.

10. Magen - Hungersnöte, Diebstahl

Gewaltbereite Schlägertrupps gehen von Haus zu Haus, pressen einem alles ab, was man selbst dringend benötigt. Eure beste Handesware auf dem korrupten Schwarzmarkt - Vaters Rumflaschen - ist vor zwei Wochen ausgegangen. Die ergatterten Nahrungsvorräte sind aufgebraucht. Es findet sich niemand mehr, der euch noch etwas abgeben oder leihen will. Du beschließt aus der Not heraus Essen von einer Nachbarin zu stehlen. Sie ist selbst genauso arm dran wie ihr. Die alleinstehende junge Frau hat auch ein kleines Kind, das nur noch schwach im Bett liegt und nichts mehr sagt. Sie ist unterwegs, wahrscheinlich auf der Suche nach etwas Essbarem, oder um sich zu verdingen. Das schlafende Kind bemerkt dich nicht bei der Suche nach den Vorräten. Du denkst an deine Tochter, während du klammheimlich und leise das einzige einsteckst, was noch zu finden ist. Wieder zurück kochst du die paar Steckrüben sofort in einer Suppe, über die begierig hergefallen wird. Nachts halten dich glasklare Schuldgefühle wach. Du redest dir ein, dass sonst dein Kind verhungert wäre; dass die junge Mutter noch versteckte Vorräte besitzt; oder andere Leute kennt, die ihr weiterhelfen. Eine Woche später beerdigte die Nachbarin schluchzend ihr geliebtes Kind. Dir wird fiebrig heiß, eine eklige Übelkeit steigt in dir auf. Eurem verzehrenden Hunger bot die karge Mahlzeit keinen Abbruch. Schwäche legt sich auf deine dürren Glieder; du kannst nur noch an Essen denken; in deinem Inneren ist es leer. - Verliere deinen Magen im Krieg.

11. Gleichgewichtssinn - Kannibalismus, Vater opfert sich

Es ist gefährlich geworden, rauszugehen. Und es ist nötig, die eigenen verbliebenen Habseligkeiten vor kriminellen Plünderern zu schützen. Dein greiser Vater ist von einer Erkundungstour nicht wieder zurückgekehrt. Niemand weiß von ihm, keiner hat die Energie, nach ihm zu suchen. Selbst deine stolze Mutter, die sich immer um ihn gesorgt hat, trägt es mit einer ungewöhnlichen Fassung, hält alle beisammen. Wie durch ein Wunder liegt am nächsten Tag ein kleines Päckchen mit Mehl und Salz auf der dreckigen Schwelle. Deine Mutter backt ein herzhaftes Brot daraus, das die schönsten Kindheitserinnerungen weckt. Es ist ein kurzer Moment der Glückseligkeit, den du voll auskostest. Beim Essen des warmen, saftigen Laibes spürst du regelrecht, wie dein schlaffer Körper wieder Energie bekommt. In den nächsten Wochen kommt immer mal wieder ein bitter nötiges Päckchen an, das deine kleine Familie am Leben erhält. Deine Gedanken drehen sich um deinen geliebten Vater. Erinnerungen überkommen dich, wie er letztens etwas mit einem alten Mann gemauschelt hat. Es ging um ein Tauschgeschäft. Sie haben sich öfter getroffen. Am Tag des Verschwindens hat dein Vater jeden von euch ganz besonders lange umarmt; eindrücklich versichert, wie lieb er einjeden hat; und dass wir uns nicht um ihn sorgen brauchten, er hätte ein langes Leben hinter sich, und seine Enkeltochter erleben zu dürfen, wäre das größte Geschenk gewesen. Auf einmal begreifst du. Das Päckchen was keine milde Gabe, sondern ein eiskaltes Geschäft - ein Geschäft mit dem Leben. Der Schock holt dich ein. Dein Blut gefriert. Deine Augen weiten sich, du verfällst in einen starren Tunnelblick. Du hast das Gefühl, abzurutschen und sehr tief zu fallen. Schier endlos tief. Du findest keinen Halt mehr, der Boden unter deinen Füßen ist weg - für immer. - Verliere deinen Gleichgewichtssinn im Krieg.

12. Orientierungssinn - Freund gefallen

Dich erreicht ein kurzer Brief von der Front. Schlechte Nachrichten: Dein bester Freund ist gefallen. Du fühlst dich wie betäubt; kannst es nicht fassen, willst es nicht akzeptieren. Der tröstende Gedanke, wenigstens ihm könnte es zumindest etwas besser ergehen, erlischt. All die schönen Erinnerungen mit ihm kommen auf. Und die Gewissheit: Nie wieder miteinader lachen, nie wieder miteinander weinen. Nie wieder. Er ist tot. Er war mehr als ein Freund; dein großes Vorbild. Wie ein Kompass hat er dir den Weg zu den richtigen Werten und guten Tugenden gezeigt. - Verliere deinen Orientierungssinn im Krieg.

13. Wirbelsäule - Vertreibung aus der Heimat, Flucht

Du schluckst deine Trauer herunter, da die Zeit drängt. Die Front rückt näher, deine Familie muss fliehen. Ihr müsst packen, nur das nötigste, das wirklich wichtigste. Du liebst deine Heimat und es fällt dir schwer, sie hinter dir zu lassen, zumal in Feindeshand. Bereitwillig zerstörst du trotzig, was nicht mit kann, aber für die einfallenden Truppen hilfreich wäre. Auf der Straße treibt dich die Verzweiflung voran. Dieser Grund und Boden ist dein Rückgrad, das dich gerade hat stehen lassen. - Verliere deine Wirbelsäule im Krieg.

14. Finger, Zehen - Naturgewalten (Kälte, Sturm)

Der unerbittliche Winter ist angebrochen. Totbringender Frost raubt dir jedes bisschen Wärme. Obwohl deine geliebte Familie zusammenrückt, bibbert ein jeder. Du frierst, bist ungelenkt als du aufstehst. Doch jemand muss hinaus in die eisige Kälte gehen, überlebenswichtiges Feuerholz sammeln. Der beißende Wind schneidet dir ins Gesicht, deine müden Augen tränen, deine trockenen Hände sind rau und die furchige Haut platzt auf. Es blutet leicht, doch das spürst du kaum. Alles ist abgestumpft, du fühlst nur den stechenden Schmerz in deiner Lunge. Im Wald lässt dir ein Wolfsgeheul einen Schauer über den Rücken laufen. Du konzentrierst dich auf’s Wesentliche: Einen Schritt nach dem anderen. Wenn du nicht mehr zurückkommen solltest, würde auch deine Familie erfrieren. Aufopfernd schleppst du das bisschen Holz, das du findest konntest, durch ein plötzlich auftretendes Unwetter. Deine Bewegungen kommen dir vor wie in Zeitlupe. Als du nach einer gefühlten Ewigkeit endlich zum rettenden Unterschlupf gelangst, sinken deine Glieder schwer und lahm zu Boden. Du spürst deine Zehen und Finger nicht mehr. Vorsichtig wärmst du dich am Ofen. Deine Mutter schält deine Strümpfe und Handschuhe von deinen starren Gliedmaßen. Sie sind tief schwarz. - Verliere deine Finger und Zehen im Krieg.

15. Gehirn - emotionaler Gegenstand, Erinnerungen verblassen

Schwerlich verarztet schwindet die Hoffnung auf Besserung. Du akzeptierst und wartest. Die Nacht bricht an und mit ihr sinken die Temperaturen noch tiefer unter den Gefrierpunkt. Das gesammelte Holz geht rapide zur Neige. Draußen ist es schon rabenschwarz. Deine Mutter durchbricht das fortwährende Schweigen und spricht von einem warmen Gefühl. Du weißt um das sichere Zeichen des nahenden Erfrierungstodes Bescheid. In deiner Not gibst du ihr deine Decke, verbrennst jeden Krümel, den du finden kannst. Schließlich wirfst du das einzig Verbliebene ins Feuer: ein Familienerbstück, das dir sehr viel bedeutet. Du bleibst mit nichts weiter zurück als der lumpigen Kleidung, die du an deinem frierenden Körper trägst. Du versuchst, trotz der Kälte etwas Erholung zu bekommen. Unruhig wälzt du dich im Halbschlaf umher. Mitten in der Nacht gibt dir jemand eine rettende Decke und du fällst in tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen wachst du auf, deine Mutter nicht. Du hast keine Tränen mehr, um sie zu beweinen; kein Grab, da der Boden gefroren ist; kein Andenken, da alles ins Feuer musste. Ziellos irrst du umher, glaubst deinen Verstand zu verlieren. Mit allem Verlorenen schwindet auch die Erinnerung daran. - Verliere dein Gehirn im Krieg.

16. Arme - Überfälle, Vergewaltigung

Wenige Tage später überfallen gegnerische Soldaten das, was ihr gerade Bleibe nennt. Menschen ergreifen panisch die Flucht. Du rennst mit deiner verbliebenen Familie um dein Leben, deine kleine Tochter im Arm. In deinem Schädel pocht das Blut, deine Waden brennen, du bist außer Atem. Die Soldaten schneiden euch den Weg ab, stoßen euch zu Boden. Dein Partny kann sich mit eurer Tochter noch schnell entwinden, doch dich drückt ein schweres Gewicht auf den eiskalten, harten Untergrund. Du musst zusehen, wie sie deiner jüngeren Schwester die Kleider vom Leib reißen. Sie wehrt sich und tritt. Einer der Männer schlägt sie brutal zusammen. Sie schreit aus Leibeskräften, Tränen laufen über ihr schmerzverzerrtes Gesicht, während sich einer nach dem anderen an ihr vergeht. Wütend willst du dich aufbäumen, mobilisierst deine letzten Kräfte. Aber du schaffst es nicht. Nachdem die Soldaten weg sind, trauen sich die anderen aus ihrem Versteck. Hilflos hälst du deine Schwester in deinen Armen, aber diese machen es nicht ungeschehen, haben es nicht aufgehalten. - Verliere deine Arme im Krieg.

17. Beine - Landmine, langanhaltende Kriegsfolgen

Auf der weiteren Flucht trittst du auf eine unbemerkte Landmine. Diese explodiert sofort, zerreißt den Moment. Du liegst am Boden, fühlst brennenden, intensiven Schmerz, so schlagartig, dass du ihn kaum aushälst. Zitternd siehst du an dir herab. Alles unterhalb deiner Hüfte ist zerfetzt, blutig. Knochen ragen zerborsten aus offenen Wunden, Splitter stecken in deiner Brust, deinen Händen. Selbst als die Blutungen gestoppt sind; dich wird zukünftig ein immerwährender Gliederschmerz begleiten. - Verliere deine Beine im Krieg.

18. Haut - (Selbst?)Mord, Krankheiten

Ihr schleppt euch weiter. Es gibt kaum noch sauberes Wasser. Du musst deiner Tochter aus einer Pfütze zu trinken geben. Die durchgängige Mangelernährung, erbitterte Kälte und schonungslose Rastlosigkeit eurer Flucht begünstigen alle Arten von Krankheiten. Gerüchte von Seuchen lassen es dir kalt den Rücken herunterlaufen. Ansonsten weist deine trockene Haut juckende Pusteln auf, deine bessere Hälfte plagen krampfendes Bauchweh und Schwindel, deine geliebte Tochter hustet seit Tagen. Deine Schwester hat der einst so freudige Lebensmut verlassen. Eines Tages wacht ihr auf und sie ist verschwunden. Ihr teilt euch auf, um die nähere Umgebung abzusuchen. Du findest deine bleiche Schwester in einem Straßengraben, umgeben von Blut, das nicht versickert ist. Ihre Adern liegen offen. Das schreckliche Bild dreht sich vor deinem inneren Auge. Dir ist schlecht. Du bedeckst ihr friedliches Gesicht mit deinem letzten Stück Tuch. Schwankend kehrst du zurück. Bei jedem Schritt kommt es dir vor, als würde dich ein Messer aufschlitzen. Als würdest du dich auflösen. - Verliere deine Haut im Krieg.

19. Herz - Partny zum Tode verurteilt

Ihr wart wiedermal fast am Verhungern. Dein Partny wollte Essen besorgen. Die schiere Verzweiflung war zu groß. Das raue Militär bekommt zu erst die spärlichen Nahrungsmittel. Wegen der vielen Soldaten eine große Menge. Es schien so naheliegend, dass ein kleiner Brotlaib und ein paar Rüben, die fehlten, nicht auffallen. Aber riskant, da die Vorräte gut bewacht werden. Ihr hattet einen Plan, doch der ist leider unglücklich verlaufen. Sie haben deinen wertvollen Lieblingsmenschen geschnappt, du bist um Haaresbreite davon gekommen. Diese Person, mit der du dein Leben aufgebaut hast, wird vor ein erbarmungsloses Kriegsgericht gestellt. Dich schmerzt, sie im Stich gelassen zu haben. Es ging nicht anders, das weißt du. Trotzdem fühlst du dich schuldig, unwürdig solches Glück gehabt zu haben. Du verdammst das Militär, die Umstände, dich selbst. Am nächsten Morgen finden wieder öffentliche Hinrichtungen statt. Sie sollen die mittellose Bevölkerung abschrecken; die vermeintliche Ordnung aufrechterhalten. Du kannst nicht hinsehen, wie sie die Ärmsten erhängen. Der ganze Prozess erscheint dir wie eine Farce. Erst die unabdingbaren Fesseln und das erniedrigende Vorführen; der geistliche Beistand und letzte Gebete des kirchlichen Vertreters, als ob es das besser machen würde; der schmutzige Leinensack, der über den Kopf gezogen wird, die Opfer unkenntlich macht; die Schlinge um den Hals, die zugezogen wird, ein unheilsvoller Vorbote, was gleich geschehen wird; der finale Urteilsspruch, der als abscheuliche Rechtfertigung zum Mord gelten soll; das klappernde Geräusch, wenn der bezahlte Henker den Hebel umlegt und damit das Ende besiegelt. Oft ist es schnell vorbei. Für manche vielleicht eine sehnsüchtige Erlösung. Andere quälen sich zuckend leidvolle Minuten. Es muss sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlen. Unerträglich die grausame Vorstellung, auf diese Weise einen geliebten Menschen sterben zu sehen. Wie sollte da erst die brutale Realität sein? Deine Liebe. Tot. Deine Kehle schnürt sich zu, du kannst kaum atmen. Du sinkst auf die Knie. Dein ganzer Körper erschlafft, während du verzweifelst gen Himmel schaust. Du fühlst einen tiefen, stechenden Schmerz in deinem Brustkorb. - Verliere dein Herz im Krieg.

20. Blut - eigenes Kind stirbt

Du klammerst dich an alles, was dich noch dazu befähigt, weiterzumachen. Deine einzige Hoffnung, die dir geblieben ist; für die es sich zu kämpfen lohnt. Dein Kind. Dein eigen Fleisch und Blut. Du konntest dich noch nicht dazu überwinden, deiner Tochter vom Tod ihres Elternteils zu erzählen. Sie fragt jetzt öfter nach und es schmerzt jedesmal. “Wo sind alle hin? Warum sind sie nicht mehr bei uns? Haben sie uns nicht mehr lieb?” Wenigstens auf die letzte Frage weißt du eine Antwort. Ihr Husten ist schlimmer geworden. Letztens hast du beim Kämmen ganze Haarbüschel entfernt. Und der blassgelbe Ausfluss bereitet dir Sorgen. Deine kleine Tochter bräuchte dringend ein warmes Bett, gesundes Essen und heilende Medizin. Nichts davon kannst du ihr bieten. Du hast schon alles Erdenkliche versucht. Mit jedem Tag geht es ihr schlechter und du kannst nur hilflos zusehen, in dem Wissen, dass dein bestes nicht genug ist. Seit Tagen will sie nicht mehr weiter laufen. Oft müsst ihr Rast machen. Was bedeutet: noch weniger Nahrung. Sie will auch nichts mehr essen. Du versuchst sie aufzupeppeln, erzählst lustige Geschichten und von den schönen Zeiten früher; machst ihr Hoffnung, dass alles wieder gut wird. Doch sie sieht dich nur matt an, regt sich nicht. Blass und kalt, wie blutleer liegt ihr Körper neben dir. Dann schließt sie die Augen. Ihr sonst so starkes Herz schlägt langsamer, immer langsamer, bis es irgendwann nicht mehr schlägt. Du sitzt lange bei ihr. Fühlst dich verlassen. Einsam. Bis du nichts mehr fühlst. - Verliere dein Blut im Krieg.

Schluss

Nach einer Weile tust du einen letzten, kraftlosen Atemzug. Du hast so viel verloren. Zu viel, um weiter leben zu können. Ohne nährstoffreiches Blut keine lebenswichtige Versorgung der Körperzellen. Dein Sichtfeld verengt sich zu einem einzigen hellen Punkt, der langsam dahinschwindet. Dein klares Bewusstsein taucht wie unter Wasser. Dein Leben geht zu Ende. Ein letzter, vergeudeter Moment. Nun. Was bleibt von dir? Nichts. Du hast im Krieg alles verloren.

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